salut : tschüss ! 6. Nina Pigné

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In unserer Rubrik «salut : tschüss !» sprechen wir mit Menschen aus der Bieler Kunst- und Kulturszene. Entweder – salut – sind sie neu in der Stadt oder – tschüss – verlassen Biel für neue Abenteuer. Dieses Mal ist es etwas dazwischen: ein Zurückkehren, Wiederbeleben, Neuanfangen. Ein «rebonjour» sozusagen.

Heute stellen wir unsere Fragen Nina Pigné, künstlerische Leitung und allgemeine Koordination des plusQ’île Festivals.

Das plusQ’île findet dieses Jahr zu unserer grossen Freude wieder statt, nachdem die Ausgabe 2024 nicht durchgeführt werden konnte. Damals war von unüberwindbaren finanziellen Schwierigkeiten die Rede, trotz guter Besucherzahlen. Wie habt ihr es geschafft, das Festival dieses Jahr wieder auf die Beine zu stellen? Habt ihr mehr finanzielle Mittel erhalten oder stärker gespart?

Wir haben an mehreren Fronten gearbeitet. Zunächst haben wir die Verhandlungen mit der Stadt und dem Kanton weitergeführt, was zu einigen Fortschritten geführt hat. Der eigentliche Wendepunkt war jedoch die dreijährige Zusage der Ernst-Göhner-Stiftung: Diese Art von struktureller Unterstützung ist selten und wertvoll, weil sie uns endlich eine mittelfristige Planung ermöglicht. Es handelt sich nicht um eine einmalige Finanzierung, sondern um ein Zeichen des Vertrauens in unsere Arbeit und unsere künstlerische und politische Vision.

Auch intern haben wir einen intensiven Reflexionsprozess angestossen. Unser Arbeitsstil war traditionell vollständig horizontal organisiert, mit Entscheidungen, die kollektiv getroffen wurden. Doch das war sehr energieraubend. Wir haben daher unsere Organisation überarbeitet: Sie bleibt kollaborativ, aber die Rollen und Verantwortlichkeiten sind klarer definiert, was uns erlaubt, effizienter zu arbeiten, ohne unseren kollektiven Geist zu verlieren. Das war entscheidend, um weiterhin unter guten Bedingungen kreativ zu sein.

Was die Eigenfinanzierung betrifft, testen wir neue Angebote. Aber es ist nach wie vor eine grosse Unbekannte: Wird die Finanzierung ausreichen, um uns über Wasser zu halten? Konkret: Wir haben eine Billeterie für bestimmte Vorstellungen eingeführt und das Barangebot erweitert, auch mit Süssem, um die Einnahmen vor Ort zu steigern.

Aber dieses Modell bleibt sehr fragil. Wir sind völlig vom Wetter abhängig... und allgemein von Unwägbarkeiten – was ein Widerspruch ist, wenn es um Kulturpolitik geht. Ein Projekt wie unseres sollte nicht auf Wettervorhersagen basieren, sondern auf einer gemeinsamen Vision des kulturellen Zugangs. Heute leben wir in einer Risikowirtschaft, wo es eine Politik des Vertrauens bräuchte.

Idealerweise sollten die öffentlichen Stellen zumindest die Betriebskosten der Struktur übernehmen. Stiftungen und Eigeneinnahmen sollten hingegen für Programmierung, Vermittlung und Infrastruktur genutzt werden. Heute ist es umgekehrt: Alles hängt von unseren direkten Einnahmen ab – also von der Besucherzahl, die vom Wetter abhängt. Ein extrem prekäres Modell.

Wie erwähnt, sind dieses Jahr einige Veranstaltungen kostenpflichtig, während andere weiterhin auf Spendenbasis laufen. War das notwendig, um das Festival zu finanzieren?

Bisher war alles auf Spendenbasis, mit dem «Hut». Davon abzulassen, war ein echter Einschnitt, denn es betrifft unsere Werte. Wir haben immer eine zugängliche Kultur verteidigt, die nicht vom Portemonnaie abhängt. Eine Ticketpflicht bedeutet, eine Zweiklassenkultur zu akzeptieren – etwas, das wir stets abgelehnt haben.

Alle sozialen Schichten sollen Zugang zur Kultur haben. Und das ist nicht immer eine Frage des Geldes, sondern oft eine Frage der Prioritäten oder Gewohnheiten. Wenn man zahlen muss, kommen manche Menschen einfach nicht. Mit freiem Eintritt entdecken sie hingegen eine Vorstellung, erkennen die Arbeit dahinter – und spenden dann bereitwilliger.

Doch auch das System mit dem Hut hat seine Grenzen: Betteln kann keine Dauerlösung sein. Deshalb gehe ich auf die Politiker:innen zu und sage: Die Besucher:innen können beitragen, aber die Finanzierung darf nicht allein auf ihnen lasten. Der Staat muss den kulturellen Zugang garantieren. Das ist eine kollektive Verantwortung.

Ihr habt viel ehrenamtlich gearbeitet, mit Unterstützung zahlreicher Freiwilliger. Wie seid ihr heute organisiert? Habt ihr eure Struktur verändert oder angepasst?

Wir lösen uns vom rein ehrenamtlichen Modell, auch in verantwortungsvollen Positionen. Es gibt heute eine gewisse Professionalisierung. Noch ist es nicht perfekt, aber es ist ein Schritt in Richtung mehr Würde. Wir vertreten eine Arbeitsweise, in der Engagement anerkannt, respektiert und wertgeschätzt wird. Das Komitee achtet auf Grenzen: Wir zählen unsere Stunden und werden nach dieser Ausgabe bewerten, ob das tragfähig ist.

Was mich im aktuellen Team besonders berührt, ist der Dialog zwischen Kontinuität und Erneuerung. Die «Alten» sind geblieben, weil sie an das Projekt glauben, an seine Notwendigkeit und Relevanz. Gleichzeitig sind neue Kräfte dazugekommen: motivierte, kompetente Menschen, die sich voll einbringen. Manche sind sehr jung und haben mit 10 Jahren am Süssigkeitenstand angefangen, dann bei der Hut-Sammlung oder am Empfang gearbeitet – und sind heute für ganze Bereiche verantwortlich. Diese neue Generation bringt Elan und frische Perspektiven. Ein echter Generationenwechsel ist im Gange. Noch ist er fragil, aber sehr vielversprechend.

Wir haben auch ein Anerkennungssystem für unsere Freiwilligen eingeführt. Selbst wenn es oft nur symbolisch ist. Bei grösseren Verantwortungsbereichen gibt es eine kleine Aufwandsentschädigung. Ziel ist eine schrittweise und angemessene Wertschätzung ihres Engagements.

Die Freiwilligen bleiben das Rückgrat des Festivals. Ohne ihre wertvolle Hilfe an den Bars, beim Aufbau oder im Empfang wäre nichts möglich! Ihr Engagement ist lebenswichtig. Sie sind es, die das Festival aufrechterhalten und ihm seine kollektive Stärke verleihen. Es ist diese Energie, diese Solidarität, die letztlich die konkrete Verwirklichung des plusQ’île ermöglicht.

Das Festival startet bald. Was macht Biel besonders attraktiv als Ort für ein solches Festival?

Anfangs war es keine strategische Entscheidung, sondern eine organische Entwicklung. Das Festival entstand in Mett, zwischen der Zirkusschule Tocati und dem Quartierzentrum. Es ist also in Biel verwurzelt. Mit der Zeit hat es sich auf die ganze Stadt ausgedehnt, durch kulturelle und soziale Kooperationen, etwa mit dem TOBS, La Grenouille oder dem Haus pour Bienne. Jede:r bringt etwas ein. Das macht das Projekt so verankert und solidarisch.

Künstlerisch bringe ich meine Leidenschaft für zeitgenössischen Zirkus ein. Und Biel ist perfekt dafür. Oft textfrei, sehr visuell. Das funktioniert besonders gut in einer zweisprachigen Stadt. Körperlichkeit und Bildsprache werden zu gemeinsamen Sprachen. So entsteht ein Raum des Dialogs in einer Stadt, in der Sprache manchmal trennt.

In der Schweiz wird diese Kunstform noch wenig unterstützt. Anders als in Frankreich, wo sie seit den 1980ern anerkannt ist, improvisieren wir hier noch. Wir sind nur wenige, die diesen Sektor tragen. Aber ich glaube daran, denn Zirkus ist eine zugängliche, unmittelbare Kunstform. Es gibt diesen «Wow»-Effekt, der alle anspricht. Trotzdem möchten wir beim plusQ’île auch sensiblere, speziellere oder herausfordernde Formen zeigen.

Und es gibt nicht nur Zirkus! Er ist ein Einstiegstor in viele performative Künste – oft alternativ, ausserhalb der Institutionen. Zum Beispiel die Compagnie Frau Trapp, kürzlich in Biel ansässig, die handgemachte Live-Projektionen mit Puppen macht: eine hybride, besondere Form, die schwer in klassische Schweizer Programme passt, aber europaweit tourt. Das Festival bietet ihnen hier eine Plattform. Das ist unsere Aufgabe.

Biel ist perfekt dafür: Das Publikum ist neugierig, offen und liebt experimentelle oder leicht schräge Formen. Es ist eine Freude, hier zu programmieren.

Und für die Bieler Kulturszene – was wünscht du dir?

Biel ist reich an kulturellen Initiativen. Hier weht eine seltene, rohe, lebendige Energie. Ständig entstehen neue Ideen, getragen von engagierter Kreativität und echtem Wunsch nach Sinn und Verbindung. Diese Vitalität ist kostbar, doch sie basiert oft auf fragilen Bedingungen: Improvisation, begrenzte Mittel und ein aktivistischer Einsatz, der sich bei fehlender Unterstützung erschöpft.

Es fehlt nicht an Mut oder Fantasie. Was fehlt, ist strukturelle Anerkennung: stabile Mittel, um Bestehendes zu festigen. Es reicht nicht, die Innovationskraft zu loben. Man muss Initiativen die Möglichkeit geben, zu bestehen, weiterzugeben, zu wachsen. Hinter jedem Projekt stehen Menschen, unzählige Arbeitsstunden – meist kaum fair entlohnt.

Die neue Generation bringt klare Erwartungen mit: Anerkennung, faire Bezahlung, Lebensbalance. Und sie hat recht. Aber die Strukturen können dem kaum gerecht werden, es fehlt an Ressourcen. Diese Kluft zwischen legitimen Ansprüchen und realen Bedingungen ist gefährlich. Sie entmutigt, schwächt, erschöpft.

Dabei gibt es ehrgeizige Projekte vor Ort. In Biel entstehen regelmässig grosszügige, mutige, inklusive und künstlerisch anspruchsvolle Orte. Doch dieser Ehrgeiz stösst an politische Grenzen. Immer wieder hören wir: «Man muss Prioritäten setzen», «Die Finanzen sind knapp» – als sei Kultur ein Luxus. Dabei ist sie ein kollektiver Reichtum. Sie stärkt den Zusammenhalt, gibt Sinn, macht Städte lebenswert.

Biel, an der Schnittstelle der Kulturen, könnte ein starkes Symbol für gelebte Zweisprachigkeit und ein echter künstlerischer Knotenpunkt werden. Es wird schon heute als freie, erfinderische Stadt wahrgenommen. Das ist kostbar. Doch damit das so bleibt, braucht es eine Kulturpolitik, die diesem Potenzial gerecht wird: mit Mitteln, Strategie und echtem langfristigen Engagement.

Denn wenn sich nichts ändert, werden die Menschen, die den «Laden» tragen, irgendwann zusammenbrechen. Und mit ihnen diese besondere Energie, dieses lebendige kulturelle Geflecht, das Biel ausmacht. Das wäre ein grosser, kollektiver Verlust.

Es ist höchste Zeit, eine neue Form der Kulturförderung in Biel zu denken: nachhaltiger, gerechter, ambitionierter.

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Nina Pigné, künstlerische Leitung und allgemeine Koordination des plusQ’île Festivals